DIE ZEIT: Herr Klinger, Sie sind Literaturwissenschaftler – und Teil eines ungewöhnlichen Forscherteams: Im Environment and Climate Research Hub (ECH) an der Universität Wien untersuchen Ökologen, Physiker, Ökonomen, Psychologen und viele andere gemeinsam den Klimawandel. Was können Sie dort einbringen?

Sebastian Klinger ist in Regensburg aufgewachsen und hat in Princeton sowie Oxford studiert. Seit dem Jahr 2022 ist der 32-Jährige Assistent am Institut für Germanistik der Universität Wien. © privat

Sebastian Klinger: Es ist klar, dass der Beitrag der Literaturwissenschaft ein anderer ist als der jener Naturwissenschaften, die konkret zu technischen Maßnahmen forschen, mit denen ein Land wie Österreich klimawandelfest gemacht werden könnte. Wir können aber eine kulturelle Perspektive auf Phänomene bereitstellen, die Naturwissenschaften nicht notwendigerweise aus sich heraus mitbringen.

ZEIT: Zum Beispiel?

Klinger: Es gibt psychologische Studien, die belegen, dass die Art und Weise, wie Menschen auf wissenschaftliche Berichte über den Klimawandel reagieren, in hohem Maße von kulturellen Faktoren geprägt ist.

ZEIT: Die Menschen schauen also in Asien anders auf den Klimawandel als in Mitteleuropa?

Klinger: Das ist eindeutig, ja. Natürlich blickt man auf den Klimawandel auch im Südsudan anders als in Österreich. Wegen der ökonomischen Voraussetzungen, aber auch wegen der Art der Betroffenheit – die Verheerungen sind dort schon massiver als bei uns.

ZEIT: Nur bekommen wir die südsudanesische Sicht darauf in Österreich nur wenig mit.

Klinger: Ja, aber die Fähigkeit der Literatur ist es, diese Stimmen aus anderen Teilen der Welt sichtbar zu machen. Wenn man Climate-Fiction-Romane aus Nigeria liest, etwa von der Autorin Nnedi Okorafor, dann kann man eine ganz andere Perspektive auf den Klimawandel entwickeln, als wenn wir mit einer österreichischen Brille darauf schauen.

ZEIT: Das klingt zwar interessant, aber mit Verlaub: Wenn bei Ihnen am Tisch Ökonomen über finanzielle Werkzeuge für den Klimawandel referieren oder Naturwissenschaftlerinnen über die Möglichkeiten, CO₂ aus der Atmosphäre zu saugen – was können die wirklich von Ihnen lernen?

Klinger: Wie komplex diese Sachverhalte sind, wie viele unterschiedliche Blickwinkel es auf ein Phänomen gibt und wie unterschiedlich es wahrgenommen wird, je nachdem, wer darüber spricht. In der Pandemie wurde beispielsweise eine klare Anforderung an die Wissenschaft gestellt: Erklärt uns die Welt! Dann merkte man aber, dass Expertinnen und Experten zwar oft richtig liegen, trotzdem aber alles komplizierter als gedacht war: nach neuen Erkenntnissen können sich Sachverhalte ändern, und einige Teile der Bevölkerung sind viel stärker gefährdet als andere.

ZEIT: Welche Auswirkungen hat das für die wissenschaftliche Arbeit am Klimawandel?

Klinger: Es ging oft um die Fragen: Wer spricht? In welcher Form werden Dinge kommuniziert? Das hat politische Stimmungen geprägt, die ja ganz entscheidend sind. Die Auseinandersetzung mit Literatur schärft das Bewusstsein dafür, ohne etwas zu beschönigen, zu verharmlosen oder wegzulassen.

ZEIT: Sie glauben also, Literatur kann die politische Kommunikation verändern?

Klinger: Natürlich! Wenn Politiker über den Klimawandel sprechen, klingt das oft phrasenhaft. Literatur kann das aufbrechen, sie kann neue Schlagworte in eine Debatte tragen, die Vorstellungskraft und Fantasie fördern. Sie kann aber auch zeigen, wie man jenseits von Apokalypseerzählungen über den Klimawandel sprechen kann. Eines der Lieblingsbücher von Barack Obama im Jahr 2020 war Das Ministerium der Zukunft von Kim Stanley Robinson. Darin beschreibt der Autor, welche konkreten Methoden, Ansätze, Technologien und Ideen wir einsetzen können, um etwas gegen den Klimawandel zu tun. Er beschreibt ein positives utopisches Denken und unterläuft so die Ermüdung, die oft mit dem Thema verbunden ist.

ZEIT: Liegt uns der Weltuntergang vielleicht näher, weil er schon immer ein beliebtes Motiv in der Literaturgeschichte war? Schon in der Bibel kam eine Flut.

Klinger: Genau. Im Gilgamesch-Epos, das noch älter ist, wird ebenfalls eine Flut geschildert. Die wird geschickt, um die Überbevölkerung zu reduzieren. Literaturwissenschaft kann analysieren, inwiefern solche Erzählungen eine Gesellschaft in einer Art Tiefenerinnerung prägen.